Geschichte der Glocken

Kurze Geschichte der Hochmeisterkirche[1]

Christusglocke der Hochmeisterkirche

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Landgemeinde Deutsch-Wilmersdorf nur eine evangelische Kirche, die 1895-1897 neben der alten Dorfkirche erbaute Auen-Kirche[2]. Das Zusammenwachsen der Ortsteile Wilmersdorf, Schmargendorf und Halensee und das Anwachsen der Landgemeinde Grunewald führten zu einem „kirchlichen Notstand“, der durch die Errichtung von zwei weiteren evangelischen Kirchen behoben werden sollte, der Grunewaldkirche (geweiht 1904) und der Hochmeisterkirche in Halensee (geweiht 1910).

Der Kirchbauverein Halensee wird 1901 gegründet, muss aber erst einmal um einen geeigneten Bauplatz kämpfen. Um Halensee keine allzu große Selbständigkeit zu bescheren, wird dem Verein anfangs nur das in weitem Umkreis fast unbebaute Gelände des heutigen Preußenparks[3] angeboten. Schließlich findet sich doch ein Baugelände am Rande von Halensee. Maurermeister Otto Schnock, Stadtrat und Mitglied des Kirchbauvereins, kann die Besitzer überreden, das Land zu einem Drittel des ortsüblichen Grundstückspreises zu verkaufen. Für 20.000 Mark erwirbt die Kirchengemeinde das Grundstück am Hochmeisterplatz. Am 21. Oktober 1908 erfolgt die Grundsteinlegung. Maurermeister Schnock, der auch der Architekt des Kirchengebäudes ist, vollendet den Bau im Sommer 1910, am 11. September 1910 gibt in feierlichem Rahmen den ersten Gottesdienst in der neuen Kirche am Hochmeisterplatz, wie sie anfangs heißt. Die Festpredigt, lautstark gehalten von Konsistorialrat Kriebitz, dem langjährigen Pfarrer der Auen-Kirche, geht nach Meinung vieler am eigentlichen Anlass vorbei. Im Grunewald-Echo vom 18.September 1910 lesen wir einige kritische Anmerkungen:

Herr Kriebitz brauchte nicht hervorzuheben, dass er ehemals Feldprediger gewesen sei, denn Ton und Temperament gingen weit über das Maß hinaus, das die verhältnismäßig kleine und recht harmonisch und intim wirkende Kirche aufzunehmen vermag. Zu einem mit wirklich künstlerischem Empfinden ausgestalteten Raum paßt das Heraufbeschwören von Blut und Leichen, wie es Herr Kriebitz aus seiner Erinnerung von den Schlachtfeldern vor 40 Jahren beliebte, durchaus nicht.

Außerdem kritisiert der Chronist, dass bei der anschließenden Festlichkeit „alle möglichen und unmöglichen Größen“ mit einem Toast bedacht wurden, die lange Zeit gegen die Erbauung einer neuen Kirche gewesen waren, während der Kirchbau-Verein, der letztendlich alles mühsam durchgesetzt habe, mit keinem Wort erwähnt wurde.

Im 2. Weltkrieg wird die Hochmeisterkirche schwer beschädigt. Bereits seit 1943 ist sie nicht mehr für Gottesdienste nutzbar. Diese werden bis 1958 im ca. 100 m entfernt liegenden Gemeindehaus gefeiert. Am 31. Oktober 1958 wird die wieder errichtete Hochmeisterkirche durch Bischof Otto Dibelius eingeweiht.[4]

 

Bronze oder Stahl? Das erste Geläut der Hochmeisterkirche (1910 – 1917)

Glockenguss war über Jahrhunderte hinweg das Werk von erfahrenen Handwerkern, die meist auf Bestellung anreisten und ihren Beruf vor Ort, also neben dem Turm, verrichteten. Nur sie kannten die richtige Mischung der Rohstoffe[5], wussten um die Temperatur der „Glockenspeise“ und den geeigneten Zeitpunkt für den Guss. Mit der Verbesserung der Transportwege konnten Glocken auch in den in der Neuzeit zahlreich entstandenen Bronzegießereien hergestellt werden. Die zunehmende Verwendung von Stahl ermöglichte dann die industrielle Fertigung von Glocken mit moderner Schmelzofentechnologie.[6] Mit dem neuen Verfahren konnten die Bronzegießereien auf längere Sicht aus Kostengründen nur noch schwer konkurrieren. Wie aber war es mit dem Klang?

Mit dieser Frage sind wir schon mitten drin in der Diskussion, die im Planungsteam der Hochmeisterkirche um den Konsistorialrat Pfarrer Kriebitz und den Stadtrat und Architekten Otto Schnock in den Jahren 1908/09 geführt wird: Bronze oder Stahl? Von Hand zu läuten – und wenn ja, mit wie vielen Händen – oder durch eine neue elektrische Läutevorrichtung? Wie soll das Geläut gestimmt sein? Können Glocken aus Gussstahl dieselbe Klangqualität erreichen wie Bronzeglocken?

10.000 Mark sind im Bauetat der Hochmeisterkirche für die drei Glocken veranschlagt, Angebote werden eingeholt. [7] In einer Zusammenstellung, die eine sorgfältige Hand übersichtlich verfertigt hat, finden wir Vorschläge für 4 verschiedene Geläute, also 4 Dreiklangfolgen, und zu jedem Geläut Kostengebote von mehreren Gießereien für drei Glocken einschließlich Zubehör und Läutesystem (Abb. 1). [8]

Die Bronzegießereien Schilling/Apolda, Ohlsson/Lübeck und Collier/Zehlendorf reichen Kostenaufstellungen für drei Geläute mit verschiedenen Stimmungen ein, Schilling und Collier noch für ein viertes. Für das Geläut in der Tonfolge c-e-g gibt es auch ein Angebot des Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation, des seinerzeit unbestrittenen Marktführers. Der Verfasser der Übersicht hat sorgfältig vermerkt, wo man die einzelnen Geläute schon hören kann: d-f-a erklingt in der Epiphanienkirche in Charlottenburg, das Geläut stammt aus der Gießerei Schilling und wurde 1905 eingebaut. Ein Geläut in der Tonfolge c-f-a, ebenfalls von Schilling gegossen, ist in der Golgatha-Kirche in Berlin und in der Pauluskirche in Gr. Lichterfelde zu hören. Die alten Glocken der Potsdamer Hof- und Garnisonkirche sind in der Folge c-e-g gestimmt. Die Glocken der Kirche in der Wilhelmsaue stammen aus der Gießerei Collier und erklingen in as-des-f. Als Kostenvergleich fügt er hinzu: „Die Kosten hierfür wurden jetzt ca. 19000 Mark betragen. Diese Glocken werden ohne Läute-maschinen geläutet u. sind hierzu jedesmal 4 Mann erforderlich.“

 

Abb. 1 Übersicht über die Kostenanschläge verschiedener Gießereien (Umschrift)

Nach welchen Kriterien ist wohl die Entscheidung gefallen? Sowohl die Auen-Kirche als auch die Grunewaldkirche sind weit genug entfernt, so dass auf eine Unterscheidung der Geläute nicht geachtet werden muss. Bleiben die Kosten und mit ihnen verbunden die Grundsatzentscheidung: Bronze oder Stahl?

Das Gebot der Firma Ohlsson ist in allen Fällen das teuerste und scheidet aus diesen Gründen wohl gleich aus. Die Angebote der Firmen Collier und Schilling liegen preislich nahe bei einander, werden aber im Geläut c-e-g vom Angebot des Bochumer Vereins erheblich unterboten. Gussstahlglocken sind, so bilanziert der Verfasser der Synopse, um knapp 3.000 Mark billiger zu haben.

Die Entscheidung fällt zu Gunsten der Bronzegießerei Schilling, trotz der höheren Kosten. Ob dabei auch der Klang eine Rolle gespielt hat, wissen wir nicht. Gussstahlglocken läuteten schon in Berliner Kirchen, aber unser Verfasser hat hierfür kein Beispiel notiert. War er skeptisch, eher traditions-bewusst? Oder hat sich der Bochumer Verein mit seinem Eigenlob in dem sechsseitigen Anschreiben zu seinem Kostengebot ins falsche Licht gerückt? Es lohnt sich, dieses Anschreiben näher anzuschauen, denn es ist ein Beispiel höchst aggressiven Wettbewerbs, der vor diffamierenden Bemerkungen über die vermutlichen Konkurrenten nicht zurückschreckt.

Sicher ist es nicht verboten, die eigenen Verdienste, Auszeichnungen und Medaillen zu erwähnen, wie z.B. die goldene Ehrenmedaille auf der internationalen Ausstellung in Paris 1855, oder darauf hinzuweisen, dass „unsere Glocken im Ton und in der Harmonie den Bronzeglocken mindestens vollkommen gleich, den letzteren inbezug auf die Hörweite und die Widerstandsfähigkeit aber bedeutend überlegen sind“. Außerdem überstünden Bronzeglocken keinen Brand und veränderten ihren Klang durch Materialabnutzung. Das hätte als Argumentation zum eigenen Vorteil vollauf genügt, wird aber ergänzt durch eine Reihe von Angriffen und Unterstellungen[9]:

Mit berechtigtem Stolz können wir darauf hinweisen, dass von den in Gross-Berlin und Umgebung in Gebrauch befindlichen zahlreichen Glocken keine einzige wegen irgend eines Fehlers zurückgegeben wurde, während wir den Nachweis erbringen können, dass eine ganze Reihe von Bronzeglocken von den Bestellern als ungenügend zurückgewiesen wurden. Die leicht erklärliche Ursache für den Unterschied ist darin zu suchen, dass

    1. unser bedeutendes Werk, welches schon seit 60 Jahren besteht, eine ganz vorzüglich geschulte Technik besitzt und Meister und Arbeiter, welche zum Teil schon 50 Jahre mit dem Guss beschäftigt sind und daher mit grösster Sicherheit die Glocken ausführen,
    2. weil es uns bei den bedeutenden Mitteln garnicht darauf ankommen kann, eine Glocke zurückzustellen, falls sie ausnahmsweise nicht gelungen sein sollte. Die verschiedenen Bronzeglockengiesser verfügen dagegen nicht über so grosse technische Erfahrungen und Mittel. Wenn nun, wie es häufiger bei ihnen vorkommt, die eine oder andere Glocke eines Geläutes nicht einschlägt, so pflegen sie entweder an das Mitleid der betreffenden Abnehmer zu appellieren, oder die Richtigkeit der Ausstellung zu bestreiten, um die Abnahme der Glocken doch durchzusetzen.
    3. Weil manche Bronzeglockengiesser, nachdem wir ihnen nahezu die Hälfte der Geläute vorweg nahmen, sich mit uns wegen der übrigen im harten Kampfe streiten. Dies ist natürlich nur auf Kosten des Preises und der Qualität möglich, d.h. es wird, wofür wir auch viele Belege haben, minderwertiges Glockengut verwendet, bei gleichzeitiger Anwendung sehr schwacher Rippen.

Geschickt wird anschließend auf die begrenzten finanziellen Mittel der Gemeinden verwiesen, die doch das bei den Glocken gesparte Geld gut für „andere kirchliche oder Unterstützungszwecke“ benutzen könnten, und es fehlt auch nicht an Anbiederung gegenüber den Personen, denen die Entscheidung obliegt: „Die Bronzeglockengießer sehen sich natürlich durch unseren Wettbewerb sehr beengt, weil intelligentere Pastore, Architekten etc. nur noch Gussstahlglocken verwenden.“ Die großzügige Zusicherung einer 20jährigen Garantie für den Fall des Absturzes beim Läuten oder bei einem Brand – in gesperrter Schrift besonders hervorgehoben – bildet den Abschluss des Anschreibens. (Eine vollständige Umschrift finden Sie hier.)

Die Firma Schilling schickt am 29.November 1909 einen detaillierten Kostenanschlag[10] über die „Lieferung von 3 neuen Kirchenglocken“ in der Stimmung c-f-a, nebst Glockenstuhl, Anlieferung und Aufhängung. Die Gesamtkosten betragen 9.160 Mark. Wenn zusätzlich das neue Läutesystem bestellt wird, „sodaß alle 3 Glocken von einem Mann geläutet werden können, erhöht sich der Preis um Mk. 680.-“, setzt der Firmeninhaber eigenhändig darunter. (Abb. 2)

 Abb. 2  Kostenanschlag der Bronzegießerei Schilling/Apolda vom 29.11.1909

Der Vertrag mit allen Details über Anlieferung, polizeiliche Genehmigungen, Bezahlung  etc. wird am 4. Januar 1910 unterzeichnet. Als Lieferzeit werden 12 Wochen angegeben, so dass wir davon ausgehen können, dass die Glocken im April oder Mai 1910 aufgehängt worden sind. Leider finden sich weder in den Archivmaterialien noch in einem der lokalen Blätter Nachrichten darüber und auch eine Weihe der Glocken anlässlich der Aufhängung wird nirgends erwähnt.

 

Die Inschriften auf den Glocken bilden aber die Grundlage für die Ansprache, mit der Generalsuperintendent Faber am 11. September 1910 die Weihe der Hochmeisterkirche vornimmt:

„Er ist euer Meister, Christus, ihr aber seid alle Brüder“ (Matth. 23,8)

„Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1.Kor. 13,13)

„Ich lebe und ihr sollt auch leben“ (Joh. 14,19)

 

Das Geläut c-f-a erklingt nur 7 Jahre lang, denn mit einer Verordnung vom 1. März 1917 verfügt das damalige Reichskriegsministerium die Ablieferung von Bronzeglocken als „Metallspende“[11] und ermächtigt, als die Gemeinden dieser Anordnung verständlicher Weise nur sehr schleppend nach-kommen, mit Schreiben vom 23. Mai die kommunalen Behörden, eine Prämie von 1 M/kg zusätzlich zu den offensichtlich bereits zugesicherten Übernahmepreisen zu zahlen.[12] Im Archiv findet sich eine handschriftliche Notiz vom 17.8.1917, aus der zu entnehmen ist, dass für die Glocken der Hochmeisterkirche 9.130 Mark aus der Stadthauptkasse gezahlt und an die Kirchkasse abgeführt worden sind – unterzeichnet von Konsistorialrat Kriebitz (Abb. 3). [13]

 

Abb. 3 Handschriftliche Notiz über die Ablieferung der Bronzeglocken

 

Abb. 3  Handschriftliche Notiz über die Ablieferung der Bronzeglocken

Es folgen vier glockenlose Jahre …

 

„Läutet, Glocken, nun hinaus!“ … von 1921 bis heute

Bronze oder Stahl? Wir können mit großer Sicherheit annehmen, dass sich diese Frage nach dem Ende des 1. Weltkriegs überhaupt nicht gestellt hat, sondern dass es darum ging, so schnell und preiswert wie möglich die im vorletzten Kriegsjahr abgelieferten Glocken zu ersetzen. Die Vereinigten Stahlwerke, AG Bochumer Verein, die noch gute zehn Jahre zuvor im Konkurrenzkampf gegen die Gießerei Schilling/Apolda unterlegen waren, lieferten bereits im Spätsommer 1921 das neue Geläut. Als Glockensprüche wurden dieselben gewählt wie auf den alten Bronzeglocken.

Die Glockenweihe fand am 11. Jahrestag der Kirchweihe statt, am 11. September 1921. In der Gottesdienstordnung zu diesem Tag waren die Glocken mit Namen genannt: Christusglocke, Paulusglocke und Oster- oder Betglocke.

Nach der Melodie von „Großer Gott wir loben Dich“ sang die Gemeinde


Laß uns heute lobend Dir                                                
Dank und Preis und Ehre bringen,                               
Weil vom hohen Turme froh                                         
Wieder unsre Glocken klingen.                                   
Gib, daß machtvoll ihr Geläut                                        

Mahne an die Ewigkeit!                                                


Läutet, Glocken, nun hinaus,
Ladet mit geweihtem Klange,
Ruft zu unsrem Gotteshaus,
Zu Gebet und frommem Sange:
Mahnend kling es in uns fort:  

Land, Land, hör‘ des Herren Wort![14]

Da tongleiche Stahlglocken häufig schwerer und größer sind als Bronzeglocken[15] und im bereits vor-handenen Glockenstuhl deshalb kaum Platz gefunden hätten, war das neue Geläut etwas höher gestimmt, e-g-a, eine sogenannte Te-Deum-Stimmung in der Folge von kleiner Terz und Sekunde.[16] Diesmal wurde auch bereits eine elektrische Läutevorrichtung eingebaut, wie aus zwei erhaltenen Wartungsprotokollen geschlossen werden kann. Dieses Geläut ruft auch heute zum Gottesdienst.

In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wuchsen Wilmersdorf und Halensee mit dem Ortsteil Grunewald immer enger zusammen, so dass die Zahl der Bewohner im Umkreis der Hochmeisterkirche weiter zunahm und die Gemeinde stetig größer wurde. Allerdings ergab sich im Verlauf der Bebauung der anliegenden Straßen mit vierstöckigen Mietshäusern ein unerwartetes Problem: Die Glockenstube lag trotz der Höhe des Kirchturms so niedrig, dass der Eindruck entstand, dass sich die Schallwellen der Glocken nicht richtig ausbreiten konnten. Die Produktionsfirma wurde um Rat gebeten und empfahl, die Schallfenster des Glockenturms bis etwa in dreiviertel Höhe von innen mit Brettern oder Eisenblechen abdichten zu lassen, um die Klangwirkung zu verbessern – ein Verfahren, das sich offensichtlich in ähnlichen Fällen schon bewährt und außerdem den Vorzug hatte, dass die Glockenstube besser vor Schnee und Regen geschützt war.[17] Ob dieser Rat damals befolgt wurde, lässt sich allerdings nicht mehr klären.

 

 

Anders als große Teile des Kirchengebäudes und die Turmspitze hat das Geläut nicht nur den Bombenangriff vom 1. März 1943 unbeschadet überstanden, sondern auch die heftigen Kämpfe in den letzten Kriegstagen, bei denen kurz vor Kriegsende am 19. April 1945 der Turm schwer getroffen wurde. Das Kirchengebäude war schon seit 1943 nicht mehr benutzbar, die Gottesdienste fanden bis zum Wiederaufbau der Kirche im Gemeindehaus statt. Aber die Glocken der Hochmeisterkirche „konnten durch alle Zeiten hindurch geläutet werden“, so steht es im Gemeindebuch des Kirchenkreises Wilmersdorf. Damit haben sie für viele Menschen in der Gemeinde noch heute eine ganz besondere Bedeutung.

 

Nachtrag bzw. Exkurs zu einem ungeklärten Streitfall:

Wenn der Klöppel schief hängt … fast schon ein Kriminalfall aus dem Jahre 1915

Im Archiv der Auen-Kirche findet sich unter 5.2.2 Liegenr. 23 ein interessanter Briefwechsel aus dem Frühjahr 1915 zwischen der Hochmeisterkirche bzw. dem Wilmersdorfer Konsistorium und der Bronzegießerei Schilling in Apolda, ein etwas einseitiger Briefwechsel allerdings, denn archiviert sind nur die Briefe, die nach Berlin gingen. Von den nach Apolda geschickten Nachrichten wurde kein Doppel aufbewahrt. Ihr Inhalt lässt sich aber gut erschließen.

Mit einander korrespondierende bzw. handelnde Personen:

    • Fa. Schilling Söhne in Apolda, Lieferanten der Bronzeglocken, die 1910 in der neu errichteten Hochmeisterkirche aufgehängt wurden
    • Meister Saul, Maschinenbaumeister, 56 Jahre alt, seit ca. 20 Jahren bei der Firma Schilling beschäftigt
    • Ein Gehilfe der Firma
    • Geh. Rat Kriebitz und dessen Sekretär
    • Architekt Schnock
    • Kirchdiener Wilhelm Hartwig

Vorgeschichte und Beginn des Streits sind schnell erzählt:

Zwei Jahre nach der Aufhängung der Glocken wurde der Bolzen, an dem der Klöppel der großen Glocke hängt, ausgewechselt

Mitte Februar 1915 gibt es erste Anzeichen,  dass sich die große Glocke nur noch schwer läuten lässt und unregelmäßig anschlägt. Das Problem wird per Postkarte am 18. Februar 1915 an die Fa. Schilling in Apolda gemeldet mit der Bitte um Abhilfe – und sei man nicht noch im Rahmen der Garantiefrist? Dieselbe Bitte wird am 4. März wiederholt.

Am 6. März bittet die Firma Schilling Söhne schriftlich um Präzisierung des Problems.

Am 13. März schickt die Firma einen Monteur …

… und jetzt beginnt ein Hin und Her an Feststellungen und Schuldzuweisungen, ein „Klöppelstreit“, der sich fast wie ein Kriminalfall liest: Sachverhalte werden vorgetragen, Zeugen einvernommen und Indizien zur Sprache gebracht.

Darstellung des Sachverhalts durch die Fa. Schilling, gestützt auf den Bericht von Meister Saul: Der Bolzen wurde nicht ordnungsgemäß geschmiert, hat sich deshalb auf einer Seite abgelaufen und hängt schief, weshalb der Klöppel nichtmehr anschlägt, die Glocke also nicht mehr geläutet werden kann. Die Staufferbüchse mit dem Schmierfett liegt unberührt am Boden. Schuld hat also der Läuter, der unaufmerksam war und, so Schilling, „kein Interesse an der Sache“ hatte.

Kriebitz erteilt in einem Gespräch dem Läuter einen Verweis wegen seiner Nachlässigkeit.

3 Wochen später nimmt dieser, der Kirchdiener Wilhelm Hartwig, inzwischen zur Infanterie nach Schwedt eingezogen, in einem vierseitigen handschriftlich verfassten Schreiben zu den Vorwürfen Stellung und schildert seine Sicht der Dinge: Er sei mit dem Verantwortlichen mehrfach vor Ort gewesen, das Schmiergefäß habe nicht auf dem Boden gelegen, sondern sei an Ort und Stelle gewesen, es habe am Boden keine Abnutzungsspuren in Form von Eisenspänen gegeben (was, wie er anmerkt, bei der Zugluft im Glockenturms auch kaum möglich wäre). Er sei überzeugt, dass die Schmiervorrichtung technisch nicht korrekt angebracht war, der von Schilling geschickte Monteur habe sich aber auf keine Diskussion eingelassen, um Schaden von seiner Firma abzuwehren. Hartwig bittet um nochmalige Untersuchung des Vorgangs. „Da ich weiß das Herr Geh.Rat nur das Recht für Recht gelten lässt so bitte ich nochmals untertänigst um genaue Untersuchung des Vorgangs und meine Wenigkeit nicht beiseite zu setzen als wenn ich durch Nachlässigkeit nur die Kirche wollte schädigen was bei Gott gelobt nicht mein Wille war. In der Hoffnung das Herr Geh.Rat meiner Bitte Rechnung trägt ziehe ich in’s Feld. Mit Gott für König und Vaterland und bleibe Gottes  und Herrn Geh.Rat ergebener Diener.“ (Vollständige Umschrift)

 

 

Abbildung 5

Dieses Schreiben schickt Kriebitz nach Apolda, erhält es postwendend und umfangreich kommentiert am 14. April zurück. Die Schmiervorrichtung funktioniere an über 3000 Glocken einwandfrei, vorausgesetzt sie werde technisch korrekt bedient, was z.B. eine Leiter erforderlich mache, um an die entsprechende Stelle zu gelangen. Es gäbe aber keine Leiter im Glockenturm – wie hätte denn überhaupt geschmiert werden können?

Hinzu gefügt wird eine Erklärung von Meister Saul: Da sich der Kirchdiener in einer Wirtschaft neben der Kirche aufhielt und nicht bereit war mitzukommen, seien er, Meister Saul, sein Gehilfe und der Architekt Schnock allein nach oben gestiegen. Also könne Hartwig wohl kaum behaupten, er sei „mit dem Verantwortlichen mehrfach vor Ort“ gewesen. Sie hätten auch festgestellt, dass der Schwengel der kleinen Glocke so lose gewesen sei, dass er bald abgebrochen wäre. Darauf hingewiesen, dass häufiges Schmieren des Bolzens unbedingt notwendig sei, habe der Kirchdiener geklagt, dass der Küster zum Heer eingezogen und er selbst mit Arbeit völlig überlastet sei.

Mehr ist leider nicht dokumentiert, Aussage bleibt gegen Aussage stehen …. Die Leiter und die Schmierbüchse fanden sich eine Etage tiefer wieder an …

Die Kriminalreporterin hat die Situation am Ende ein wenig zugespitzt. Wer sich zum Anwalt der einen oder anderen Seit machen möchte, möge in den eingescannten Dokumenten weiter forschen (hier).

 

Christin Grohn-Menard, April 2013



[1] Für diesen Teil stütze ich mich auf die vom Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchengemeinde der Hochmeisterkirche herausgegebene Chronik, 2. überarbeitete und ergänzte Auflage 2010

[2] Die alte Wilmersdorfer Dorfkirche von 1772 wurde trotz zahlreicher Proteste anschließend abgerissen.

[3] Zwischen dem heutigen Fehrbelliner Platz und der Konstanzer Straße.

[4] Detailliertere Angaben zur Geschichte der Kirche unter www.hochmeisterkirche.de

 

[5] Glockenbronze, die zu 78% aus Kupfer und zu 22% aus Zinn besteht, ergibt einen für Glocken idealen Härte-grad, der für eine gute Erregbarkeit beim Anschlag und für eine angemessen Dauer des Nachklingens sorgt. Ein höherer Zinngehalt ließe den Klang zwar heller und feiner werden, aber die Bronze wäre auch härter und damit eher in Gefahr zu zerspringen. Ein geringerer Zinngehalt hätte eine schnellere Abnutzung der dann weicheren Bronze zur Folge. Vgl. Christhard Mahrenholz, Glockenkunde, Kassel (Bärenreiter) o.J., Vorwort der Ausgabe vom Juli 1948.

[6] Um einen gewissen Nachhall zu gewährleisten, müssen die Klöppel der Gussstahlglocken schwerer sein; um andererseits den Klang möglichst weich zu halten, haben sie dann in der Regel einen Anschlag aus Bronze, der auf einen Stahlkern aufgebracht wird. Vgl. Mahrenholz a.a.O.

[7] Für die folgenden Ausführungen habe ich Material aus dem Archiv der Auen-Kirche ausgewertet, das alle Dokumente des Kirchenkreises Wilmersdorf bis zum Jahr 1945 aufbewahrt. 1945 erhielten die bisherigen Teil-gemeinden ihre volle Eigenständigkeit und führen seitdem auch eigene Archive.

[8] Archiv Auen-Kirche 5.2.2, Liegenr. 12; weitere Informationen zu den Gießereien s. Klaus-Dieter Wille, Die Glocken von Berlin(West). Geschichte und Inventar. Berlin 1987.

[9] Alle zitierten Stellen  stammen aus dem Schreiben des Bochumer Vereins für Bergbau und Gussstahlfabrika-tion, Hauptvertretung Berlin, Abteilung: Gussstahlglocken, an den Geheimen Konsistorialrat Kriebitz, 30. Okto-ber 1909 (Archiv Auen-Kirche 5.2.2, Liegenr. 23). Unterstreichungen im Original.

[10] Archiv Auen-Kirche 5.2.2, Liegenr. 12.

[11] Vgl. Wille, Die Glocken von Berlin(West), S. 50.

[12] Archiv der Auen-Kirche 5.2.2, Liegenr. 23.

[13] A.a.O.

[14] Ordnung des Gottesdienstes … zur Weihe der neuen Glocken am 11. Kirchweihtag. Archiv a.a.O.

[15] Hinweis von Horst Bittner von der Firma Glocken-Bittner in Neuenhagen (www.glocken-bittner.de)

[16] Im Gegensatz zur Gloria-Stimmung, die erst die Sekunde und dann die kleine Terz enthält; beide Stimmungen sind häufig anzutreffen.

[17] Schreiben der Fa.Schilling Söhne vom 12.2.1932 an den Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchen-gemeinde Berlin-Wilmersdorf, Archiv Auen-Kirche a.a.O.